Oh, Mann!

Der gesellschaftliche Wandel lässt Geschlechterstereotypen bröckeln – und dabei so manche Frage offen: Was heisst schon männlich? Fest steht, dass auf der Suche nach Antworten kein Mann an der Schönheitsindustrie vorbeikommt.

«Das Schönste an den meisten Männern ist die Frau an ihrer Seite», sagte Henry Kissinger einmal. Damit dürfte der Spitzenpolitiker kaum am Selbstbewusstsein der Geschlechtsgenossen gekratzt haben, gilt es doch als gesellschaftlicher Konsens, dass der Mann vieles sein muss, aber nicht schön. Stark, furchtlos, wohlhabend – so lauten die Prädikate männlichen Erfolgs. Lauter Klischees? Sicher. Aber kaum einer wird bestreiten, dass sie Gültigkeit behielten, auch lange nachdem der mittlerweile gealterte Kissinger das politische Ruder aus der Hand gegeben hatte. Heute, im neuen Jahrtausend, haben Geschlechterstereotypen zu bröckeln begonnen.

Das führt dazu, dass Frauen nicht länger als Gradmesser männlicher Erfolge herhalten müssen, sondern ihre eigenen feiern, während Männer mit Rollenbildern experimentieren, die am harten Kerl vorbeiführen. Es hat auch zur Folge, dass Frauen versuchen, sich von Schönheitsidealen zu trennen – und Männer dabei sind, sich überhaupt welche zu erschaffen. «Der Mann von heute investiert in sein Äusseres», sagt der Berliner Konsumsoziologe Ragnar Willer. «Dazu gehören Kosmetikprodukte und Pflegedienstleistungen, Fitnessangebote und Bekleidung.»

Das Marktforschungsinstitut Euromonitor registriert entsprechend einen Boom im Markt für Männerpflege und beziffert dessen weltweiten Umsatz auf 47 Milliarden Dollar pro Jahr. 60 Milliarden Dollar sollen es Schätzungen zufolge bis ins Jahr 2020 sein. 40 Prozent der Erlöse gehen auf Toilettenartikel wie Duschgel, Deo, Haut- und Haarpflegemittel zurück, je 30 Prozent steuern Parfüms und Rasierprodukte bei. Rund 30 Minuten – einer US-Studie zufolge so viel wie eine berufstätige Frau – verbringt der Mann tagtäglich mit seiner Schönheitspflege, weiss Nathalie Rübner. Als Marketing Manager verantwortet sie bei L’Oréal unter anderem die Marke Men Expert, die zu den beliebtesten Männerpflege-Brands gehört. Am meisten gekauft, sagt Rübner, würden Deos und Duschprodukte. «Bei der Gesichtspflege haben viele Männer noch Barrieren.» Dennoch: Das Potenzial sei riesig, so die Expertin. «Wir wissen, dass 70 Prozent der Männer Wert auf ihr Aussehen legen.»

Auf die Frage, was den gut aussehenden Mann ausmacht, gibt es dagegen keine klare Antwort. Schönheitsideale werden geprägt vom Zeitgeist, und der aktuelle weist Männern keine eindeutige Position zu. «Wir leben in Zeiten des Umbruchs und des Aufbruchs», sagt Soziologe Willer, «eine Folge davon ist, dass der Mann verschiedene Rollen einnehmen muss.» In der Arbeitswelt gelte Leistungsorientierung weiter als männlich, gleichzeitig müsse kooperativ und kommunikativ sein, wer seinen Job auch behalten wolle. Privat sei der empathische Partner und engagierte Vater gefragt. «Der Mann kann die Erwartungen, die ihm entgegengebracht werden, kaum erfüllen», sagt Willer. Das sei mitnichten ernüchternd: «Dadurch gewinnt er an Freiheit, sich auszuprobieren.» Die «individualistische Wende», wie Willer es nennt, mache nicht nur die Frage nach der Definition von Männlichkeit überflüssig. «Familienbilder, Schönheitsbilder, Altersbilder, Frauenbilder, Männerbilder», sagt er, «alles steht zur Disposition.»