Die Fotografin Lynsey Addario ist eine der wenigen Frauen, die aus Kriegsgebieten berichten. Die Pulitzerpreisträgerin hat mehrmals dem Tod ins Auge geblickt und dennoch nie daran gedacht, ihren Beruf aufzugeben.
«Du solltest nach Afghanistan gehen und die Frauen fotografieren, die unter den Taliban leben», hatte ihr Mitbewohner Ed gesagt, und sie war seinem Rat gefolgt. Lynsey Addario ist 26 Jahre alt, als sie in Afghanistan ankommt. Sie fotografiert verschleierte Frauen auf rostigen Krankenbetten und Menschen in Trümmern, trifft selbstbewusste Städterinnen, die früher, vor den Taliban, Ministerinnen gewesen waren. Die Frauen winken die Amerikanerin in ihre Häuser, reichen ihr Tee. Sie ziehen die Kopfteile ihrer Burkas zurück, bis ihre blauen Augen zum Vorschein kommen. Im Flur stehen, wie zur Erinnerung an vergangene Zeiten, ihre Lacklederpumps. Addario gelingen intime Aufnahmen eines unter Verschluss gehaltenen Volkes. Dennoch findet sie damit nur wenige Abnehmer. Im Jahr 2000 interessiert sich noch kaum jemand für Afghanistan. Das Folgejahr bringt die Wende. Am 11. September stürzen in New York die Zwillingstürme ein. Von nun an ist immerzu von Afghanistan die Rede, wo die US-Regierung die Wiege des Terrorismus vermutet. Addario bietet ihrer Bildagentur an, hinzufliegen. Sie ist jung und unerfahren, gehört aber zugleich zu den wenigen, die jemals unter den Taliban gearbeitet haben.
«Ich wollte nicht Kriegsreporterin werden», sagt Addario über den Beruf, für den sie heute gefeiert wird. Ihre Arbeit wurde mehrfach prämiert, auch mit dem Pulitzerpreis, der höchsten journalistischen Auszeichnung überhaupt. Keinen der Konflikte, die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren im Nahen Osten zugetragen haben, hat Addario verpasst. Sie dokumentierte die Herrschaft der Taliban in Afghanistan, die Invasion der USA im Irak, den Sturz Gaddafis in Libyen, menschliches Leid im syrischen Bürgerkrieg. Die 42-Jährige überlebte manchen Kugelhagel, sie hat Freunde verloren, Menschen sterben sehen. In Libyen wurde sie in einen Kerker geworfen und misshandelt. «Warum macht ein Mensch so etwas freiwillig durch?» Diese Frage hört sie nun schon ihr halbes Leben lang. In ihrer Autobiografie gibt die Kriegsfotografin Antwort darauf. «It’s What I Do», heisst das Buch im Originaltitel. Hollywood hat sich die Rechte an der Story gesichert, die von Steven Spielberg mit Oscarpreisträgerin Jennifer Lawrence in der Hauptrolle verfilmt worden ist.
Lynsey Addario unterdrückt ein Gähnen, als sie sich im Sitzungszimmer ihres Berliner Verlags auf einen Sessel fallen lässt. Sie ist zierlich, trägt Modeschmuck und hat akkurat manikürte Nägel. Banalitäten wie diese fallen auf, weil sie nicht zu den Vorstellungen einer Frau passen, die sich auf den Schlachtfeldern dieser Welt herumtreibt. Sie freue sich auf den Abend mit ihrem kleinen Sohn, sagt sie. Addario ist mit dem britischen Journalisten Paul de Bendern verheiratet, zwei Tage wird sie zu Hause in London verbringen, bevor sie in den Sudan aufbricht.