«Flüchtlinge sind nicht nur Opfer»

Als Krisenmanager brachte Kilian Kleinschmidt Stabilität in das drittgrösste Flüchtlingslager der Welt an der syrisch-jordanischen Grenze. Von seinen Erfahrungen könnte Europa heute viel lernen.

Manchmal geht der Krieg aufs Neue los, wenn sie glauben, ihm gerade entkommen zu sein. Es sind Gefechte in den Auffangstationen und Asylheimen der gelobten Länder. Hier müssen die Geflohenen zwar keine Militärs oder Rebellen fürchten, aber ihresgleichen. Mit der steigenden Anzahl von Personen, die in Europa Asyl suchen, häufen sich Berichte über Gewalt in Flüchtlingsheimen. In Deutschland etwa kam es im Dezember in mehreren Unterkünften zu Ausschreitungen, zuletzt in Hamburg, wo die Polizei mit 34 Streifenwagen einrückte, um einen Streit aufzulösen. Das betroffene Lager, wo 600 Personen in einem ehemaligen Schulhaus leben, galt bis dahin als vorbildlich.

Dass dort, wo einander fremde Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen, hohes Konfliktpotenzial besteht, erstaunt nicht. Doch es gibt einen, der Lösungen parat hat. Sein Ansatz ist ungewöhnlich –und erprobt in einem der härtesten Übungsfelder: Kilian Kleinschmidt war 25 Jahrelang für das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR tätig. Berühmt wurde der Berliner als Leiter des weltweit drittgrössten Flüchtlingscamps, Zaatari in Jordanien, wo 80000 geflohene Syrer leben. Kleinschmidt weiss, dass der Mensch im Flüchtlingslager zum Massenobjekt wird. Das schüre Aggressionen. «Personen werden zur logistischen Angelegenheit: Fünf passen in ein Zelt, für jeden gibt es eine Pritsche und pro Tag 2100 Kilokalorien.» Solche Standards würden oft blind angewandt. Dann könne es schon passieren, dass trotz Kälte keine Decken ausgehändigt werden, weil sie gerade nicht auf der Verteilungsliste stehen. Ebenso problematisch, so Kleinschmidt, sei das Gemeinschaftsprinzip in den Lagern: «Nur weil sie das Schicksal als Flüchtling teilen, ist nicht davon auszugehen, dass sich einander wildfremde Menschen solidarisieren.» Vielmehr sei die Panik der Flüchtenden vergleichbar mit der Panik, die bei Feuer in einer Diskothek ausbreche: Da schaue jeder für sich. Wer alles verloren habe, müsse zuerst seine Rolle als Individuum wiedererlangen, damit er zu einer Gemeinschaft beitragen könne.

In Zaatari hatte es Kleinschmidt irgendwann aufgegeben, Einfluss darauf zunehmen, wie die Zelte und Container aufgestellt werden. Man hatte versucht, sie nach Vorgaben der Ingenieure aufzuschlagen; für jede Einheit die gleiche Fläche, mit genauen Abständen zueinander. Doch kaum hatte der Kran die Container abgesetzt, verschoben sie die Lagerbewohner, bauten sie auseinander und nach eigenen Vorstellungen wieder zusammen. Sie montierten Gemeinschaftstoiletten ab, um sich eigene Nischen zu bauen, teilten das Gas aus der Gemeinschaftsküche unter sich auf, statt zusammen zu kochen. Aus den Laternen zapften sie Strom an und betrieben damit Handel. Gegenüber Kleinschmidt sagten sie, das sei kein Diebstahl, sondern Privatisierung. «Für uns Helfer war das nicht lustig», sagt Kleinschmidt, «aber es brachte uns zu einer wichtigen Erkenntnis.»