An Schweizer Schulen haben immer mehr Kinder einen Migrationshintergrund. Die daraus resultierende Sprachenvielfalt nehmen Lehrpersonen vor allem als Herausforderung wahr – sie können sie aber auch als Ressource nutzen. Wie das geht, zeigt das an der Pädagogischen Hochschule FHNW entwickelte Projekt Melifa.
An der Wandtafel hängen farbige Zettel. «Thailändisch», steht darauf geschrieben, «Suaheli» oder «Portugiesisch». Es sind Sprachen, welche die Kinder einer sechsten Klasse im Stadtbasler Schulhaus Thierstein zu Hause sprechen. Elf verschiedene seien es, sagt Lehrerin Nesrin Okumus. Schweizerdeutsch ist bei den 20 Schülerinnen und Schülern lediglich zweimal vertreten. Im Englischunterricht steht ein Quiz an. Jedes Kind umschreibt ein Kleidungsstück, ohne es zu benennen. Etwas Wärmendes, das über dem Pullover getragen wird? «Jackett», notiert ein Mädchen. Dann gibt sie ihrem Banknachbar den Stift: «Schreib auf, was Jacke auf Albanisch heisst.» Gesagt, getan. Jetzt will der Bub von seiner Mitschülerin die tamilische Version hören. Er ist überrascht, dass diese fast gleich tönt wie die englische. Das gilt nicht für die Schrift, wie schnell deutlich wird, als das Mädchen zu Zeichen ansetzt, die wie Ornamente anmuten.
Nach der Pause feiert Kevin Geburtstag. Er darf wählen, in welcher Sprache für ihn gesungen wird. Englisch soll es sein. Die Zugaben wünscht sich der Bub auf Albanisch und Türkisch. Mehrsprachigkeit ist in der Klasse von Nesrin Okumus eine soziale Realität, die zu vielen Gelegenheiten Eingang in den Unterricht findet. «Die Muttersprache ist für jedes Kind ein wichtiges Stück Identität, das auch in der Schule seinen Platz haben soll», findet Okumus. «Dafür ist viel Vorarbeit nötig, was respektvollen Umgang miteinander betrifft. Sagt ein Kind etwas in seiner Sprache und die anderen lachen, geht der Schuss nach hinten los.»
Dass ihre Herkunftssprache kein Hindernis, sondern eine Ressource ist, will Okumus nicht nur ihren Schülern, sondern auch deren Eltern vermitteln. Gemeinsam mit einer Kollegin betreut die Primarlehrerin an der Schule Thierstein das Projekt Melifa (mehrsprachige literale Förderung für die ganze Familie), in dessen Entwicklung sie bereits als Studentin an der Pädagogischen Hochschule FHNW involviert war. Melifa setzt auf Family Literacy, ein Konzept zur Lese- und Schreibförderung, das Kindern und Eltern gemeinsame Erlebnisse rund um Bücher ermöglicht. Unter der Leitung von Katja Schnitzer und Trix Bürki, Dozentinnen für Deutschdidaktik an der FHNW und Expertinnen für Deutsch als Zweitsprache, startete Melifa 2014 als schweizweit erstes Pilotprojekt für Family-Literacy-Anlässe auf der Kindergarten- und Primarstufe. Die Schule Thierstein war während des zweijährigen Versuchs Projektpartner. Eltern besuchten Klassen, um Kindern Geschichten zu erzählen – und zwar in ihrer Muttersprache. «Geschichten sind ein kulturübergreifendes Phänomen, das verbindet», sagt Bürki.
Warum sollte die Schule Sprachen, die nicht im Lehrplan stehen, Bedeutung schenken? Auf diese Frage hat die Forschung überzeugende Antworten. «Wir wissen, dass ein Kind gut ausgebaute Kenntnisse in seiner Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen kann, vor allem im Schriftlichen», sagt Schnitzer. Je besser also ein Kind seine Muttersprache beherrscht, desto einfacher lernt es eine Zweitsprache wie Deutsch.